Oktober 2017 – Von Chloroform für die Queen und Reiseapotheken für das Volk

Das British Empire im Streit um Eleganz und Gesundheit

Englische Reiseapotheke, bestehend aus einem Lederkoffer, mit 12 Flakons, Schönheitspflaster, Federkielen und einer Balkenwaage mit Feingewichten; u.a. Savory & Moore®, Bradley & Bourdas®, Blake, Sandford & Blake®, London/ Vereinigtes Königreich Großbritannien und Irland, wohl 1870er Jahre

Schenkung 2017

Gegensätze ziehen sich an, heißt es so schön im Volksmund. Kein anderes Jahrhundert als das 19. zeigte sich in traditionellen Werten und fortschreitender Wissenschaft und Technik widersprüchlicher. Ob nun auf dem Kontinent oder dem British Empire, die Menschen Europas einte ein Alltag der Kontroversen. Auch gekrönte Häupter wie die englische Königin Victoria (*1819-†1901) bildeten hierbei keine Ausnahme. Privat zeigte sich die Monarchin durchaus lebhaft mit einer Quintessenz Nonchalance an Ehrlichkeit, zeichnete gerne männliche Akte und sammelte Kunstwerke nackter Gentlemen. Das Viktorianische Zeitalter war also keinesfalls prüde und langweilig, denn „das Leben ist zu wichtig, um es seriös zu nehmen“, so die Meinung des zeitgenössischen irischen Schriftstellers Oscar Wilde (*1854-†1900). Während die schneidigen Militärs säbelrasselnd in Korsetts steckten und des Nachts eine Bartbinde ertrugen, gestatteten sich junge Mädchen die Freiheit mit sportlich leichtem Kleid Rad zu fahren, mit der Gefahr, das Gleichgewicht durch den sittsam mit Blumenarrangements gezierten Hut auf dem Kopf zu verlieren.

Nicht nur die Erzieher und Turnlehrer plädierten für leichte Kleidung und Körperertüchtigung, wie dem plötzlich in Mode kommenden Bad an der See. Auch die Fortschritte der Humanmedizin, die sich den Opfern der Cholera-Epidemien gegenüber sah, schärften den Blick für Körperpflege und Wohlbefinden. Im Streit zwischen Eleganz und Gesundheit ging Königin Viktoria als leuchtendes Beispiel voran. Für eine schmerzfreie Entbindung von ihrem Sohn Prinz Leopold (*1853-†1884) – das vorletzte von neun Kindern – nahm sie die Dienste von John Snow (*1813-†1858) in Anspruch. Als erster Facharzt für Anästhesie betäubte er die Königin mittels Maskennarkose und dem 1831 entdeckten Chloroform. Zum Entsetzen klerikaler Kreise hatte die Landesmutter gegen das göttliche Gebot Genesis 3,16 „Du sollst mit Schmerzen Kinder gebären“ verstoßen. Dennoch gewann diese als „narcose à la reine“ (franz. Narkose für die Königin) bezeichnete Geburtshilfe schnell an Popularität.

Neben bewährten Hausmitteln bestand gegen Ende des 19. Jahrhunderts für die begüterte Mittel- und Oberschicht die medizinische Selbstversorgung in einer gut sortierten Haus- und Reiseapotheke. Die hier gezeigte englische Reiseapotheke im Lederkoffer ist beredtes Zeugnis durch den auffallend mannigfaltigen Inhalt. Die unterschiedlich großen Fächer im Inneren beherbergen neben einer Packung Schönheitspflaster, Federkielen für Etikettenbeschriftungen und einer Balkenwaage mit Gewichten zum besseren Dosieren, vornehmlich acht große und vier kleine Flakons aus klarem Gebrauchsglas. Für den erforderlichen luftdichten Verschluss der in Formen geblasenen Behältnisse wurden ausnahmslos eingeschliffene Glasstopfen verwendet, die zusätzlich durch ein Pergament und ein Siegelband überzogen wurden. Die gedruckten und teils handschriftlich ergänzten Papieretiketten gewähren nicht nur Aufschluss über den Inhalt, bestehend aus Pudern, Tinkturen und Pillen, sondern verweisen auch auf den Hersteller. Einschlägige Traditionsunternehmen wie Blake, Sandfort & Blake®, Bradley & Bourdas® oder Savory & Moore® lassen sich hier und dort nachlesen. Diese, oftmals mehrere Filialen unterhaltenden, Apotheken fertigten bewährte Heilmittel nach Rezepturen fremder und eigener Provenienz an. Savory & Moore® etwa, wurde bereits im Jahre 1794 gegründet und wuchs schnell als eingetragenes Warenzeichen heran. Zu dem Gründungsgeschäft gesellten sich um 1876 noch zwei weitere in London und eines in Brighton hinzu. Als „Apotheker der Königin und seiner Königlichen Hoheit des Prinzen von Wales“ wurden jedoch nicht nur Medikamente, sondern auch Kosmetika wie Zahnpulver und Parfums vertrieben. Als Monarchin des British Empire hatte Königin Victoria – die zeitlebens eine robuste Gesundheit ihr Eigen nannte – sicher wenig Zeit, das reichhaltige Angebot der Apotheken ihres Reiches zu würdigen, umso mehr sich ihrer Landeskinder anzunehmen. Nicht umsonst schrieb sie einst die Zeilen: „Will eigenes Leid zu sehr Dein Herz bedrücken, dann lass Dein Aug´ auf fremdes Leid nur blicken; so trefflich kann dich nichts vergessen lehren, als das Bemühen, fremdes Leid zu wehren.“

Präsentation: Glas-Café, Kleintettau; 04.10. bis 01.11.2017; HINWEIS: Der Lederkoffer und weitere Zubehörteile werden im Rahmen der Präsentation nicht gezeigt!

Künftiger Standort: Sammlungsdepot

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